Minimalismus

Wir* haben zu viele Dinge. Wir leben in einer Überflussgesellschaft**. 

Ich habe zu viele Dinge. 

Mein Kleiderschrank ist immer noch voll (und punktuell sehr unordentlich), obwohl ich neulich ausgemistet habe. 

Die Sehnsucht nach Reduktion, nach Übersicht und Klarheit war mal wieder zu Gast in meinem Leben. 

Schon seit ein paar Jahren gibt es den Minimalismus-Trend. So wie wir ihn heute kennen, wurde er von dem us-amerikanischen „Simplifier“ David Michael Bruno im Jahr 2008 angestoßen, als er seine „100 Thing Challenge“ startete – mit dem Ziel, seinen Besitz auf unter 100 Dinge zu reduzieren. Nun habe ich mich gefragt:

Hat die Minimalismus-Bewegung durch die Corona-Pandemie erneut einen Boost erfahren? 

Weil Zeit zum Sortieren war und uns bewusst wurde, worauf es wirklich ankommt? Auf die nicht-materiellen Dinge: Familie, Freundschaft, Begegnungen und Berührungen. 

Natürlich sind die Minimalismus- und Marie-Kondo-Trendphänomene Ergebnisse genau dieses überbordenden Überflusses, des Zuviel von allem, gespeist aus der unaufhörlichen Produktion von Dingen, von Kleidung, Möbel, Accessoires, Ordnersystemen und Putzgeräten und dem Kaufen dieser Dinge. Die Welt wird immer noch überschwemmt mit ihnen, die meisten sind unnütz, unnötig oder beides.

Sehnsucht nach Übersicht: Adieu!
Nachdem der „Sehnsucht nach Übersicht“ - Gast wieder weg war, hatte ich Sehnsucht nach einem bestimmten Pulli „von früher“. Vielleicht ja auch gerade wegen der Pandemie und der Schwierigkeit die Familie zu treffen. Und dann. Hatte ich ihn aussortiert. 

Warum? Gerade. DIESEN? 

Zuerst war ich wehmütig, dann habe ich mich geschämt, weil ich wehmütig war. Wie unreif. Wie schwach. Wie wenig minimalistisch. Wie wenig zeitgeistig. An Dingen aus der Vergangenheit zu kleben ist sowas von out. Loslassen ist das Mantra der Bewussten. 

Ich vermisse den Pulli trotzdem. Und Hannah Arendt hat hierzu passende Gedanken formuliert, wenn sie von der Haltbarkeit schreibt, die „den Dingen der Welt eine relative Unabhängigkeit von der Existenz der Menschen“ verleiht. Denn Dinge hätten die „Aufgabe, menschliches Leben zu stabilisieren.“ Sie hielten „der reißenden Veränderung des natürlichen Lebens“ etwas entgegen. 

Sie stabilisieren dadurch, dass sie immer da sind. Sie stabilisieren den sich ständig verändernden Menschen in seinem sich ständig verändernden Leben, denn sie bleiben immer die selben und (normalerweise) immer am selben Ort. 

Zeit in Doppelrahmstufe
Sie geben dem flüchtigen Leben von heute Substanz und machen es halt-barer. Dauer(haftigkeit) kommt ins Spiel. Die Zeit fühlt sich auf einmal satter an … wie Zeit in Doppelrahmstufe.

Wann, wenn nicht in Zeiten der massiven Veränderung können wir vertraute Objekte besser gebrauchen, um uns in der Gegenwart zu verankern und nicht von den stürmischen Wellen des Wandels hinfortgespült zu werden?  

Voraussetzung ist, dass wir diese Dinge auch schon länger haben. Konsumieren, wegwerfen und wieder konsumieren ist also keine Lösung, sondern bringt nur noch mehr Unruhe in unser Gleichzeitigkeiten-Dasein. 


Gut, dann beim nächsten großen Ausmisten und überhaupt im Leben: 

Haben, behalten, wertschätzen. 


Auch wenn das gerade nicht im Trend liegt. 

* Das gilt für bestimmte größere Gruppen innerhalb der Gesellschaft. 

**Eine mögliche Definition: „Die ständige Steigerung der Güterproduktion und des Güterverbrauchs je Kopf der Bevölkerung ist die Regel”. (vgl. Henschel) 

Literatur:

Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben 

Rudolf Henschel: Die sozialen Nöte der Überflußgesellschaft

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