Fluide Sphären
Was verändert sich?
In meiner Arbeit werde ich oft zu einzelnen Themenbereichen befragt: Wie sieht sie aus, die Zukunft des Wohnens? Der Mobilität oder der Alterung der Gesellschaft? Das sind spannende Felder, aber bevor wir Antworten in Teilbereichen finden, ist es wichtig ein Grundverständnis dafür zu entwickeln, dass sich etwas ELEMENTAR und ganz GRUNDSÄTZLICH verändert. Die Struktur unserer Gesellschaften wandelt sich, und damit auch die Art wie wir handeln, denken und fühlen.
Wie tektonische Platten verschiebt sich das Fundament auf dem wir stehen.
Das ist - auf globaler Ebene und in dieser Intensität - einmalig in der Menschheitsgeschichte.
Das ist so als würden wir inmitten einer Landschaft stehen, die ihre Topographie langsam aber sicher verändert. Wir wissen nicht, warum das plötzlich passiert, wie lange es dauert und was das Ergebnis sein wird. Das beunruhigt zutiefst. Die Vogelperspektive einzunehmen hilft.
Denn dabei ist zu erkennen, dass die neue Struktur, die sich abbildet, die eines komplexen Netzwerks ist. Diese Struktur liefert die Form, in die wir unsere Lebensführung fließen lassen.
Je stärker sich zum Beispiel die unterschiedlichen Lebensstile ausdifferenzieren, desto verzweigter wird das Netzwerk – neue Knotenpunkte, Verbindungselemente und Wechselwirkungen entstehen und lassen sich das Netzwerk organisch weiter entwickeln. Es wird immer komplexer, es entstehen immer mehr sichtbare Optionen für die Einzelnen, was toll sein kann, aber auch massiv überfordernd.
Die Netzwerkgesellschaft, wie sie Manuel Castells beschreibt, hat eine Eigendynamik, die hochkomplex und in ihrer Struktur ganz anders ist als die Gesellschaft des Industriezeitalters vor einigen Jahrzehnten, die viel stärker durch klare Zuschreibungen und klassische Hierarchien geprägt war.
Mit der zunehmenden Geschwindigkeit, die durch Digitalisierung, Globalisierung und Mobilität angetrieben wird, wird auch der Grad der Verflechtung innerhalb des Netzwerks immer komplexer.
Es liegt auf der Hand, dass dieser Strukturwandel auch neue Formen des individuellen und gesellschaftspolitischen Denkens und Handelns fordert.
In was für einer Welt leben wir gerade?
In einer Welt, in der sich Ebenen zu überlagern scheinen und das Eindeutige seltener wird.
In einer Welt, die in Bewegung ist, so stark und vielschichtig wie nie zuvor. Physisch wie virtuell fließen Räume und Daten ineinander, treffen sich Menschen an unterschiedlichen Orten der Welt, zu verschiedenen Zeitpunkten. Sie verlassen dafür manchmal die eigenen vier Wände oder bleiben - heute mehr denn je - einfach nur vor ihrem digital device am Esstisch sitzen. Mark Zuckerberg will das Ganze mit Metaverse auf die Spitze treiben.
Die Orte, die früher noch eine klare Funktionszuschreibung hatten, werden multifunktional. Sphären überlagern sich und Grenzen verschwimmen.
Wir arbeiten auch dort, wo wir wohnen. Wir erledigen Privates im Büro. Wir haben Meetings im Restaurant und treffen gleich danach einen Freund zum After-Work-Drink am gleichen Ort. Wir verweilen an Transit-Orten, die immer mehr zu einem temporären Zuhause werden können, solange man sich selbst dabei hat. Die eigenen Gedanken - und das Smartphone.
Der Schlüssel zu einer ganzen Welt, die immer mit dabei ist, die das Konnektive, ständigen Zugang zu Personen, Menschengruppen und Mindsets verspricht.
Hält sie ihr versprechen? Wenn ja - zu welchem Preis?
Neben einigen praktischen Vorteilen, die auf der Hand liegen, bleibt ein diffuses Gefühl darüber, dass das Digitale eher uns kontrolliert als andersherum. Alles ist so verfügbar, ruft und lockt uns ständig, wie die Sirenen in Homers Odyssee. Das perfide Lockmittel generiert sich aber aus einem genau gegenteiligen Gefühl. Einem Gefühl der Verfügungsmacht über - die Welt.
„Das ständige Herumtippen und -wischen auf dem Smartphone ist eine fast liturgische Geste, die sich massiv auf das Verhältnis zur Welt auswirkt. Informationen, die mich nicht interessieren, werden schnell weggewischt. Inhalte hingegen, die mir gefallen, werden mit Fingern herangezoomt. Ich habe die Welt ganz im Griff. Die Welt hat sich ganz nach mir zu richten. So verstärkt das Smartphone die Selbstbezogenheit. Herumtappend unterwerfe ich die Welt meinen Bedürfnissen. Die Welt erscheint mir im digitalen Scheint totaler Verfügbarkeit.“Byung-Chul Han in Undinge. Umbrüche der Lebenswelt, S.26 (2021)
Eine Zeit der Gleichzeitigkeiten entsteht, die uns überfordert und seltsam unbefriedigt uns selbst überlässt, Sekunde für Sekunde. Das Informationszeitalter lässt kein Momentum mehr zu, das sich aus sich heraus entwickelt – und dafür Zeit braucht.
Das Prinzip des Netzwerks
Das Prinzip des Netzwerks zu verstehen bedeutet die real-digitale Welt zu verstehen. Also eine Welt, in der die Grenzen zwischen real und digital immer mehr verschwimmen und Ökosysteme entstehen, in denen sich das Digitale und Analoge jedes Mal aufs Neue zu einer Realität miteinander verknüpfen. In Zukunft gilt: Alles ist real. Die strikte Unterteilung in digital und analog wird obsolet.
Wenn wir das Prinzip des Netzwerks verstehen, bedeutet das auch, dass wir uns als Einzelne darin verorten und unser Handeln, aber auch das Handeln von „Dateninteressenten“, besser nachvollziehen können.
Aus fluiden Orten werden fluide Sphären. Und daraus ein fluides Dasein, das zwangsläufig zu einem fluiden Sein führt?
Wie gehen wir damit um? Völlig grenzenlos in Raum und Zeit umhermäandern - dafür sind wir Menschen nicht gemacht. Wir brauchen Verankerung und echte Resonanz im analogen Raum. Wir brauchen Klarheit in den diffusen Datensphären.
Wir sind an einem Scheideweg zwischen zwei Zukünften, die jeweils in eine sehr unterschiedliche Richtung gehen. Die eine ist geprägt von dystopischen Elementen wie Überwachung, Manipulation und Kontrolle. Die andere Zukunft hingegen weist starke Merkmale von Freiheit, Gerechtigkeit und Autonomie auf.
Für welche Richtung entscheiden wir uns?