Im Strahlungsfeld der Kunst bei Vito Acconci

„I come from the word“
Wach, neugierig und gegenwärtig: Vito Acconci ist Architekt, Künstler – und Menschenfreund.

Ein flüchtiger Blick auf einen, dessen Gehirn nie aufhört zu reflektieren.

Wie ist ein Mann, dessen bekannteste künstlerische Aktion daraus besteht, acht Stunden am Stück unter einer Vorrichtung aus Holzplatten im Museum zu masturbieren?
In welchen Sphären schwebt einer, der sich dabei
filmt, wie er sich selbst die Bauchhaare einzeln auszupft,
ohne Hilfsmittel, nur spitze Finger als körpereigene Pinzette nutzend?
„Meine frühen Arbeiten haben mein Leben ruiniert.“ Vito Acconci, 72, sitzt bei einem Pappbecher Kaffee in seinem Acconci-Studio in Brooklyn, New York, und lächelt gequält.
Er ist Jury vorsitzender des ersten Design Awards der NEUEN WIENER WERKSTÄTTE und lädt zum Kennenlernen in seine Kreativräume.

Ob dieser drastischen Formulierung kann man sich vorstellen, dass er schon ein paarmal zu oft auf „Seed Bed“ (1972) oder „Openings“ (1970) angesprochen – und darauf reduziert wurde. Und doch blitzt kurz ein ironisches Funkeln in seinen Augen auf.

Bei Acconci im Studio. Brooklyn, 2012.

Acconci wirkt frisch und aufgeweckt, gleichzeitig umgibt ihn
eine Ausstrahlung, die – den Bestfall vorausgesetzt – nur Menschen umgeben kann, die auf ein pralles Leben in allen Nuancierungen zurückblicken können. Eine wissende Gelassenheit.
„Es ist wichtig, Konzeptkunst immer auch im kulturhistorischen
Kontext zu sehen. Das waren die frühen 70er, eine Zeit der ununterbrochenen Suche nach dem Sinn und nach sich selbst. Diese Suche hat sich auch in allen anderen Künsten widergespiegelt, in der Literatur gleichermaßen wie in der Musik.
Van Morrison singt in seinen Songs oft 9. Minuten lang von sich selbst, um zu hinterfragen „Wer bin ich eigentlich?“ – um dann ohne Antwort abzubrechen. Diese ständige Ich-Bezogenheit war furchtbar, schien uns damals jedoch die einzige Möglichkeit, standardisierte Konventionen zu hinterfragen und sie zu brechen, um irgendwie weiterzukommen. Heute ist so eine Radikalität ja gar nicht mehr nötig ...“

ALLES, NUR NICHT ROUTINIERT

Acconci trägt die Uniform der Künstler: schwarze Hose und ein schwarzes Hemd mit ausgefranstem Loch im Ärmel. Die Haare sind schwarz-grau und
etwas schütter, tiefere Falten und kleinere Fältchen graben sich
abwechselnd durch sein Gesicht. Der Blick ist offen, und die Augen strahlen ehrliches Interesse an seinen Gegenübern aus.
Was hätte man erwarten können? Zumindest ein bisschen mehr egozentrische Selbstverliebtheit, mehr Unverbindlichkeit, dafür weniger Unmittelbarkeit. Doch dafür ist Acconci viel zu sehr Philanthrop. Der Name Vito Acconci ist der breiteren österreichischen Öffentlichkeit spätestens seit der Mur-Insel geläufig.

Trotz – oder gerade wegen – kontroverser Diskussionen war dieses Gebilde auf einmal da, eine hybride Mischung aus Amphibie und Fisch. Inmitten des Grazer Flusses, umspült vom fließenden Mur-Wasser, steht das moderne Wahrzeichen seit 2003 für den Dreiklang Architektur und Kunst im öffentlichen Raum in Verbindung mit dem Erlebnis Wasser.

Vito Acconci blickt mittlerweile auf ein vielseitiges, sich nur
auf den ersten Blick widersprechendes künstlerisches Leben zurück. Die Mosaikstückchen aus seinen Schaffensphasen haben sich Stück für Stück zu einem bunten Gesamtkunstwerk zusammengefügt.

AM ANFANG STEHT DAS WORT

Vito Hannibal Acconci kommt 1940 in New York zur Welt. Als einziges Kind italienischer Einwanderer wächst er in bescheidenen Verhältnissen
auf, seine Kindheit reflektiert er als behütet. Sein Vater legt Wert auf eine Erziehung, in der die Welt der schönen Künste eine wesentliche Rolle spielt.

Er nimmt ihn mit ins Theater, in Museen und in die Oper – der Zugang soll leicht und spielerisch vermittelt werden, auf keinen Fall streng und ernst. Vor allem ist der Mann aus L’Aquila ein Sprachfreund, glücklicherweise sogar einer mit Humor. „Mein Vater stand immer mal wieder plötzlich vor mir und sagte Sachen wie: ‚What is the perfect salad for honeymoon? Lettuce alone!‘“, erinnert sich Acconci lachend.
Die Verbindung zwischen ihm und seinem Vater muss eine starke gewesen sein, er denkt gerne an die gemeinsame Zeit zurück. Es ist ein freudiges Erinnern, kein traurig-melancholisches. Plötzlich fängt Vito Acconci an, mit den Fingern zu schnippen, wiegt den Fuß im Takt und singt: „There’s no business, like the rope business ...“ Wieder lacht er: „Mein Vater war im Bademantel-Geschäft, das war seine persönliche Hymne. Solche Wortspiele hat er andauernd gemacht und damit meine Leidenschaft für das Wort geweckt.“

Vito Acconcis Gespür für Sprache kommt im persönlichen Gespräch immer wieder heraus, er liebt neue Wortkombinationen, kostet Laute aus und achtet auf das perfekte Timing – der Rhythmus der Sprache ist eindeutig auch der Rhythmus seines Lebens.

Freundlich. Neugierig. Ehrlich interessiert. Bei Acconci im Studio. Brooklyn, 2012.

VITOS VISIONEN

Die Basis für sein gesamtes Schaffen ist Acconcis grundsätzliches Interesse an allem – an Menschen, Dingen, Strömungen und Trends sowie an deren Verknüpfungen.

War in den Siebzigerjahren der Musiker und Komponist Van Morrison eine wichtige Inspirationsquelle, sind es heute experimentelle DJs elektronischer Musik. Stillstand oder gar Rückwärtsgewandtheit kennt er nicht. Auch das neu geschaffene Raum-Zeit-Verhältnis durch die digitale Welt beschäftigt
den Denker: „In Zukunft muss der virtuelle Raum mit dem analogen Ort regelrecht verschmelzen. Ich finde es schade und schrecklich unlogisch, dass wir flache Bildschirme vor unseren Augen haben. Dass wir uns mit dieser statischen und zweidimensionalen Nutzung zufrieden geben. Vielmehr müsste uns der virtuelle Raum komplett umgeben.“
Der Wandel dauert Acconci merklich zu lange, er scheint im Kopf immer wieder aus einer zukünftigen Dekade auf unsere jetzige zurückzublicken. Er reflektiert immer das Gesamte, die Vergangenheit mit der Gegenwart und verknüpft beide mit seinen Zukunftsvisionen.

„ARCHITEKTUR SCHAFFT FREIRÄUME“

Für Acconci hat der physische Ort, trotz Digitalisierung, nach wie vor eine große Bedeutung: „Bei meinen Reisen besuche ich am liebsten öffentliche Plätze in größeren Städten und beobachte, wie sich die Menschen im öffentlichen Raum bewegen. Was macht die Architektur mit ihnen, und was machen sie mit der Architektur?
Architektur kann den Menschen Macht geben. Mit Macht wächst gleichzeitig auch die Verantwortung und die Möglichkeit des Einzelnen, den Raum aktiv zu verändern. Mit Architektur kann man die Masse erreichen. Design ist dabei ein Teilaspekt, der, nur für sich stehend, einen für mich viel zu kleinen Teil der Bevölkerung erreicht. Nur jenen, der ohnehin schon kulturaffin ist.“

VITO ACCONCI. Einer, der Bücher schon lange nicht mehr von vorne bis hinten durchliest.

„Let the mind play games ...“
Sondern nur den Anfang und das Ende und sich das Dazwischen lieber selbst zusammenfantasiert.
„... high and low and far and wide ...“
Der die Zukunft in roboterhaften Visionen sieht.
„... further and faster than the hand can reach ...“
Und doch das Elementare im Einfachen findet.
„... let the hand stick to what it can do. Let the hand pick pockets.“*

*Vito Acconci über den Design Award 2012



Erinnerungen an den Besuch bei Vito Acconci in Brooklyn im Jahr 2012. Dieser Text ist zuerst im KAPO-Design-Magazin Ausgabe 14 / 2013 erschienen.

Vito Acconci * 24. Januar 1940 in Bronx, New York City, New York; † 27. April 2017 in Manhattan

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